Darf man denn eigentlich gar nichts mehr sagen?

Bild: Unsplash, Brian Wangen

Was ist dran am latenten Vorwurf, der vornehmlich in Kommentarspalten erhoben wird, Kommunikation sei ein kaum zu bewältigendes Minenfeld geworden? Steuern wir tatsächlich auf eine Zensur zu? Sind die Menschen heutzutage einfach nur verweichlicht und sehen in jeder noch so harmlosen Äusserung eine Beleidigung?

«Die verstehen einfach keinen Spass mehr heute», «Die Sprachpolizei schlägt wieder zu!», «Man kann ja einer Frau nicht mal mehr ein Kompliment machen ohne gleich der sexuellen Belästigung bezichtigt zu werden!» «N*** haben wir als Kinder immer gesagt. Das ist doch nicht böse gemeint und ich werde in meiner Freiheit eingeschränkt, wenn ich das nicht sagen darf!», «Zensur!» 

Die Meinungsfreiheit ist quickelbendig

Die Diskussion darüber, was man sagen darf und was nicht, dreht sich seit Jahren im Kreis. Meistens beginnt eine neue Schlaufe damit, dass eine Person des öffentlichen Lebens etwas Menschenverachtendes gesagt hat und dafür kritisiert wird. Oder dass Frauen oder Mitglieder einer Minderheit medienwirksam auf Missstände sprachlicher Natur aufmerksam machen. Dann wird in den Kommentarspalten, an den Stammtischen und in Feuilletons geschrien: «Bedrohung der Meinungsfreiheit!» 

Dabei darf man heutzutage viel sagen. Eigentlich darf jede*r so ziemlich alles, was ihm*ihr grad so einfällt. Und dank der Kommentarfunktion bekommt jede Meinung eine Plattform. Antje Schrupp, Politikwissenschaftlerin und Journalistin, sagt dazu: «Man darf heute sehr viel sagen. Und wenn man mal einen kleinen Blick ins Internet wirft, stellt man fest, dass da ganz viele ganz schreckliche Dinge auch gesagt werden.»

Echter Diskurs braucht Anregung 

Wo liegt also das Problem? Die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach bringt es so auf den Punkt: «Die Klage von angeblichen Meinungsverboten kommt auffallend oft von Leuten, die es gewohnt waren, unwidersprochen zu bleiben. Wenn man nachhakt, stellt sich meist raus, dass Kritik und Widerspruch (etwa durch Minderheiten, Frauen usw.) mit Meinungsverbot gleichgesetzt wird.»

Mit anderen Worten: Gewisse Gruppen sind es sich einfach nicht gewohnt, kritisiert zu werden (im Gegensatz zu anderen, nämlich solchen mit Diskriminierungserfahrung, die in der Vergangenheit ständig und immer noch oft einstecken müssen) und das ist offenbar schwierig. Fakt ist aber, dass man alles sagen darf, was man will. Man darf halt einfach nicht erwarten, dass alle klatschen.

Wer ehrlich an einem Austausch und einer Horizonterweiterung interessiert ist, möchte ein Thema von allen Seiten beleuchten. Das «Auf-den-Tisch-Legen» sämtlicher Meinungen und Positionen schafft erst den Nährboden für einen differenzierten Diskurs und ist deshalb nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Das bedeutet für jede*n von uns, dass unsere Meinung, und sollte sie noch so traditionsreich, althergebracht und in unserer Kindheit noch normal gewesen sein, hinterfragt werden darf.

«Alle sind für Meinungsfreiheit. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht gepriesen wird. Die Vorstellung einiger Leute jedoch ist, dass sie frei sagen können, was sie wollen, aber sobald jemand ihnen widerspricht, ist das eine Ungeheuerlichkeit.»

Winston Churchill

Wessen Wahrnehmung zählt?

Nur wenn wir kritisieren dürfen, können wir auch Sprechpositionen neu verhandeln: Wessen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Lebensrealitäten zählen? Worüber wird in der Öffentlichkeit verhandelt und wer verhandelt es? Wer darf was sagen und wer nicht und warum?

Oft verwechseln Menschen eine Kritik an ihrer Meinung mit Kritik an ihrer Person. Sie fühlen sich dann entweder beschnitten («Zensur!») oder schiessen unsachlich, scharf und gar primitiv zurück. Und plötzlich findet man sich in einer Diskussion wieder, in die man nie hineingeraten wollte.

An jeder Kritik hängt ein Mensch dran

Vielleicht kennen Sie das: Ihr Bürokollege Paul, Tante Hilda, Nachbar Adalbert, You-name-it äussert sich rassistisch, homo-, trans-  oder frauenfeindlich. Sie stocken. Sie weisen die Person darauf hin, was sie gerade gesagt hat. Die Tirade, die folgt, ist Ihnen bekannt in dieser oder ähnlicher Form: «Nichts darf man mehr sagen! Einschränkung der Meinungsfreiheit! Du mit deinem Gutmenschentum/ deiner Korrektheit! Denkst du, die Welt wird besser, wenn man nicht mal mehr ehrlich sagen kann, was man denkt?» 

Und jetzt, wie weiter?

Wenn wir den Diskurs wieder aufleben lassen wollen, müssen wir überlegen, wo er sich überhaupt lohnt. Da hilft es, zuerst einmal Kritik zu relativieren: Ist sie (im Gegensatz zu der von Paul/Hilda/Adalbert) sachlich, können wir sie in Ruhe betrachten. Vielleicht finden wir einen Aspekt, der unsere Meinung wertvoll ergänzt. Oder wir einigen uns friedlich mit unserem Gegenüber auf «agree to disagree».

Wenn die Kritik unsachlich und undifferenziert ist, Allgemeinplätze und Empörung bedient, können wir sie getrost ignorieren im Wissen, dass das Gegenüber damit mehr über sich selber aussagt als über die Sache (geschweige denn über uns). Denn wie sagte schon Spinoza so schön: Das was Paul über den Peter sagt, sagt mehr über den Paul aus als über den Peter.

Dialogfähigkeit richtig einschätzen

Wenn Paul sich weigert, seine Kommunikation anzupassen, obwohl klar ist, dass sie verletzend ist («Das haben wir schon immer so gesagt und haben es nie böse gemeint!»), sagt er viel über sich aus: «Lieber verletze ich andere als die die Anstrengung auf mich zu nehmen, andere Wörter zu benutzen als bisher. Und wenn das jemand kritisiert, dann mache ihn*sie mundtot, indem ich kritisiere, dass ich kritisiert werde.» 

Wie andere mit Ihnen umgehen, können Sie nicht kontrollieren. Was Sie aber kontrollieren können, sind Sie selber. Wie wollen Sie mit anderen umgehen? Wollen Sie nun gleich reaktiv antworten wie Paul? Wollen Sie auch laut und unsachlich werden? Lohnt es sich überhaupt, mit Paul weiter zu diskutieren? 

Oder können wir Paul einfach Paul sein lassen in seinem Glauben, die Menschheit steure gerade auf eine weltweite Zensur hin, nur weil er gerade darauf hingewiesen wurde, dass die Süssspeise in der Auslage «Schokokuss» heisst und nicht so, wie man das in seiner Kindheit genannt hat?

Lassen Sie mich gern wissen, was Sie dazu meinen. Ich bin auf LinkedIn, Instagram und per Mail erreichbar.

Herzlich, Asha Ospelt-Riederer

P.S. Kennen Sie das Sprichwort: «Not my circus, not my monkeys»? Es stammt ursprünglich aus dem Polinischen. Ich hab mir ein Plakat davon gebastelt und es mir ins Büro gehängt. So erinnert es mich immer wieder daran, meine Energie und Zeit auf das zu lenken, was wirklich in meinen Händen liegt.

Ich hoffe, Sie schaffen das besonders jetzt in der Vorweihnachtszeit. Alles Gute!

P.P.S. Wenn Sie Unterstützung bei der Kommunikation in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit brauchen, melden Sie sich, ich helfe Ihnen gerne weiter.