Die Schweiz hält den Ball flach: Der neue alte Leitfaden des Bundes zum geschlechtergerechten Formulieren

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«Bund verbietet Genderstern» oder «Bund und Kantone halten nichts vom Genderstern» titelten die Zeitungen Mitte Juni dieses Jahres. Die Schlagzeilen klingen, als ob ein Damoklesschwert über die gendergerechte Sprache niedergegangen wäre und das Thema nun tot sein müsste. Ich erkläre Ihnen gerne, was sich geändert hat durch den Entscheid des Bundes. Spoiler: nichts.

Aber von vorne: Die Bundeskanzlei ist dabei, ihren «Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren» zu überarbeiten. Dieses rund 150 Seiten umfassende Regelwerk gründet auf dem Artikel 8 der Bundesverfassung: «Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tat­sächliche Gleichstellung.» Der Leitfaden richtet sich an Mitarbeitende der Bundesverwaltung sowie an Kantone, Gemeinden und Organisation, die Hilfestellungen für das geschlechtergerechte Formulieren «wünschen». Im Juni gab die Bundeskanzlei vorab ein Statement zum Inhalt.

Darin sind «aus Sicht der Bundeskanzlei […] typografische Mittel […] nicht geeignet, diesem Anliegen gerecht zu werden.» Das bedeutet, dass für offizielle Texte von Behörden, Schulen und der Rechtspflege Lückenformen wie der Genderstern, der Unterstrich oder der Gender-Doppelpunkt nicht zulässig sind. Das heisst, alles bleibt, wie es war, seit 2009.

Die dafür von der Bundeskanzlei angeführten Gründe nehme ich gerne mit Ihnen auseinander, liebe Leser*innen, und erkläre Ihnen zum Schluss, was das für Sie als Mensch mit Sprachbewusstsein bedeutet.

Downer 1: Inhaltliche Fehleinschätzung?

Grund Nummer 1 der Bundeskanzlei, sich gegen den Genderstern zu entscheiden: «Zum einen leisten sie [die typografischen Mittel wie Genderstern, Unterstrich, Doppel- oder Mediopunkt] nicht, was sie leisten sollten…» 

Hmm, ist das wirklich so? Ich glaube, da hat die Bundeskanzlei etwas zu wenig genau formuliert, was sie meint. Es gibt nämlich zahlreiche Studien zu der Wirkung gendergerechter Sprache. Und die halten klar fest, dass Sprache einen unmittelbaren Einfluss auf die Wahrnehmung und somit auf Vorstellungen von Geschlechterrollen hat. Und dass die Verwendung gendergerechter Sprache das Ansehen von Frauen und nonbinären Menschen verbessert. Vielleicht wäre die Zusammenarbeit mit Aktivist*innen der nonbinären Community eine gute Idee gewesen?

Downer 2: Sprachliche Arbeitsscheu?

Grund Nummer 2: «…und zum andern verursachen sie [die typografischen Mittel wie Genderstern, Unterstrich, Doppel- oder Mediopunkt] eine ganze Reihe von sprachlichen Problemen.»

Die Aufnahme einer Lückenform hätte bedeutet, dass der Leitfaden weit mehr Sonderfälle hätte regeln müssen als bisher. Das hätte also enorm Arbeit generiert, die neu ist, weil es bisher keine offiziellen Nachschlagewerke für diesen Fall gibt. Diesen Arbeitsaufwand wollte man sich wohl ersparen.


Als Expertin für gendersensible Sprache sehe natürlich, dass es zu Beginn nicht allen gleich einfach fällt, Lückenformen in einem gesunden Mass und an treffenden Stellen zu platzieren. Das ist aber reine Übungssache und dafür gibt es zahlreiche Tipps und Tricks. (Bei mir, zum Beispiel.)

«Ach, Schweiz: Da hättest du einmal cool sein können und dann das.»

Ist dir der gesellschaftspolitische Diskurs denn so wenig wichtig?


Die Bundeskanzlei stellt sich mit dem Argument auch neben den Rat für deutsche Rechtschreibung. Der hat im März dieses Jahres in einer Empfehlung festgehalten, dass er zwar klar der Meinung ist, «dass allen Menschen mit geschlechtergerechter Sprache begegnet werden soll und sie sensibel angesprochen werden sollen.» Dies sei allerdings eine «gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe, die nicht allein mit orthografischen Regeln und Änderungen der Rechtschreibung gelöst werden kann.» Der Rat empfiehlt deshalb eine Aufnahme von Kennzeichnungen im Wortinnern vorerst nicht. Der Bund wählt also sprachpolitisch den Weg des geringsten Widerstandes.

Downer 3: Politische Zaghaftigkeit?

Grund Nummer 3 der Bundeskanzlei, keinen Genderstern aufzunehmen: «Ausserdem sprechen auch sprachpolitische und rechtliche Gründe gegen die Verwendung dieser Mittel.» Das ist wohl ein grosser Punkt: In der Schweiz ist es im Gegensatz zu zahlreichen anderen Ländern bis heute nicht möglich, ein drittes Geschlecht anzugeben. Wenn nun also der Genderstern offiziell in den Leitfaden aufgenommen worden wäre, hätte dies eine Teilanerkennung dieses Missstandes auf Bundesebene bedeutet und den politischen Dialog dazu angeheizt. Die Bundeskanzlei kann oder will einer längst fälligen Debatte nicht vorgreifen.

Der Mini-Sieg

«Das generische Maskulin (Bürger) ist nicht zulässig.» Bam! Das sagt die Weisung der Bundeskanzlei zum Genderstern auch. Das dürfen wir uns auf der Zunge zergehen lassen: Die männliche Form anzuwenden, wenn auch andere Geschlechter gemeint sind, ist nicht mehr zulässig. Konsequenterweise müsste die Bundeskanzlei sich nun darum bemühen, dass alle Verwaltungsinstitutionen, Schulen und die Rechtspflege ab sofort gendern (wenn 

auch in der von der Bundeskanzlei erarbeiteten Light-Variante. Aber besser als nichts!). 

Ausserdem hält die Bundeskanzlei zum weiteren Vorgehen fest, dass sie die Sprach- und Schreibentwicklungen laufend beobachtet und «achtet zudem insbesondere im Rahmen der Rechtsetzungsbegleitung auf Fälle, in denen von Einzelpersonen verlangt wird, dass sie ihr Geschlecht angeben. Sie wirkt darauf hin, dass dies unterlassen wird, wo es keine überzeugenden Gründe dafür gibt.» Das ist doch auch was, oder?

Wie soll es nun weitergehen?

Na, wie bisher! Der Leitfaden des Bundes ist ja nur in den oben genannten Kontexten verpflichtend. Und dort können Sie folgende von der Bundeskanzlei abgesegnete Formen der Sichtbarmachung verwenden:

  • Paarformen (Bürgerinnen und Bürger)
  • Kurzformen mit Schrägstrich (Bürger/innen oder Bürger/-innen)
  • Kurzformen mit Binnen-I (BürgerInnen)
  • geschlechtsneutrale Formen (Anwesende, Stimmvolk)

Davon ist nur die neutrale Schreibweise gendergerecht, d.h. alle Geschlechter einschliessend, die anderen sind einfach fraueneinbindend. Und trotzdem ist es besser, diese anzuwenden, als nichts zu tun.

In allen anderen Lebenssituationen (und Sie wissen: Das sind verdammt viele!) können Sie weiterhin kommunizieren, wie Sie möchten. Das empfehle ich Ihnen von Herzen: Versuchen Sie, alle Menschen anzusprechen, experimentieren Sie, tanzen Sie mit der Sprache! Und wenn Sie Hilfe dabei brauchen, melden Sie sich. Dann machen wir gemeinsam Sprach-Tango.

P.S. Haben Sie den 26. September auch dick in der Agenda eingetragen, um ein JA zur Ehe für alle abzugeben? Auch das können wir für eine fairere Gesellschaft tun. Cheers!